Brilon
. Es waren keine höflichen Bitten sondern lautstarke
Appelle und Hilferufe, die jetzt vor dem Briloner Rathaus erklangen. Der
Grundtenor des vielstimmigen Chores: „Hilfe! Mehr Zeit für Pflege“. So ist aktuell
im April auch die landesweite Kampagne der Freien Wohlfahrtspflege gegen die
schlechten Rahmenbedingungen in der Ambulanten Pflege überschrieben. Auch der
Caritasverband Brilon hat sich jetzt mit einer Protest-Aktion an der Kampagne
beteiligt.
Schlag Zwölf zu Mittag
starteten 37 der markanten roten Caritas-Flitzer der Sozialstationen zu einem
Autokonvoi rund um die Briloner Innenstadt. An Bord: Rund 500 handgeschriebene
Wünsche, Erwartungen und Forderungen an Politik und Kostenträger, was für
Konditionen es für eine qualitativ hochwertige und zugleich zwischenmenschlich
wertschätzende Pflege braucht. Diese Wunschzettel hatten die Teams der
Sozialstationen vorab auf ihren Touren an Patienten und Angehörige verteilt.
Ganz oben auf der Wunschliste stand die „Zeit“. Und dieser Wunsch hat mehrere
Dimensionen: „Ich wünsche mir mehr Zeit für mich und die Pflegekraft, damit es
nicht immer nur ein Kommen, Pflegen und Gehen ist. Einfach Zeit, auch für ein
Stückchen Menschlichkeit.“ Den Zeitwunsch teilen viele Betroffene, denn „bei
einem jährlichen Patientenstamm von derzeit 900 Senioren, werden dabei rund
eine Millionen Kilometer in den kleinen roten Flitzern bewältigt“, unterstrich
Heinz-Georg Eirund, Vorstand Caritasverband Brilon.
Gewünscht wurde sich darüber hinaus: Bürokratie- und Dokumentationsabbau,
bessere Finanzierung der Pflege – sowohl für die Patienten als auch für die
Mitarbeiter – durch die Kostenträger. Unterm Strich stellten Patienten und
Angehörige die gleichen Forderungen nach einer Novellierung der
Rahmenbedingungen wie die Fachkräfte, die im Bereich der Ambulanten Pflege
tätig sind. Dieses Wunschpaket wurde in Brilon vor dem Rathaus der
Öffentlichkeit, begleitet von einem Hup- und Trillerpfeifenkonzert, präsentiert
und anschließend kommentiert.
„Die Folgen der chronischen Unterfinanzierung der Pflege liegen auf der Hand“, setzte Karen Mendelin, Fachbereichsleitung Senioren- und Krankenhilfe des Caritasverbandes Brilon, an: „Arbeitsverdichtung bei den Pflegekräften, noch engere Tourenplanung, weniger Zeit für die zu pflegenden Menschen. So, wie es ist, kann es nicht weitergehen. Pflege ist weit mehr als die Verrichtung von Handgriffen zur Sicherung von Körperhygiene oder medizinischen Verrichtung. Pflege ist Begegnung und Kommunikation.“ Eine menschenwürdige Grundsatzeinstellung, die bislang von den Kostenträgern buchstäblich wenig an- und gar nicht abgerechnet wird. Diese derzeitige „Pflege im Minutentakt“ rechnet sich weder auf dem Papier geschweige denn in Zukunft, warnte Karen Mendelin: „Auf Dauer wächst die Gefahr, dass ganze Räume von einer funktionierenden pflegerischen Versorgung abgeschnitten werden, schlicht, weil die Versorgung sich nicht mehr rechnet.“ Und ebenso schlägt schon jetzt der Mangel an einer gerechten, der Leistung angemessene Entlohnung zu Buche: Angesichts der schlechten Rahmenbedingungen entscheiden sich immer weniger junge Menschen für einen Beruf in der Senioren- und Krankenpflege. Eine Schieflage, die während der Aktion auch Brilons Bürgermeister Franz Schrewe benannt hat. Er forderte dazu auf, Arbeit und Einsatz der Pflegekräfte stärker zu honorieren.
Eine Hochrechnung der
aktuellen Lage präsentierte Caritas-Vorstand Heinz-Georg Eirund auf dem Podium:
„Die Bürokratisierung in der Pflege kostet jährlich 2,3 Milliarden Euro.
Konkret heißt das: Bei 60 Patienten einer Sozialstation werden ganze 2,3
Vollzeitstellen allein für die Dokumentation gebraucht. Deutschlandweit sind
68.000 Mitarbeiter in deutschen Pflegeeinrichtungen mit nichts anderem als mit
der Dokumentation beschäftigt. Offenbar sind Kontrollen und Dokumentationen
wichtiger, als die zur Verfügung stehenden Mittel für Maßnahmen einzusetzen,
die dem zu Pflegenden direkt zugute kommen.“
Die Konsequenzen aus einer auf dem Rechenreißbrett vorgegebenen Pflege
beschrieb Pfarrerin Sabine Fähnrich als Tochter einer pflegebedürftigen Mutter
in einem emotionalen Erfahrungsbericht und rief danach zur geschlossenen
Solidarität in der Gesellschaft auf: „Warum lassen wir zu, dass in Minuten
gerechnet werden darf? Wir sollten das nicht still hinnehmen, bis wir selber
betroffen sind.“
Um Kostenträger und Gesetzgeber wach zu rütteln, hatte das Caritas-Team auf dem Rathausplatz ein Krankenbett mit einem fluffigen Ruhe- neben einem unbequemen Sorgenkissen platziert. Darauf gedruckt war eine Agenda der Forderungen von Patienten, Angehörigen und Mitarbeiter eingerahmt von den Zeilen: „Auf dass Ihre Wünsche Wirklichkeit werden.“