Brilon
. Die Diskussion um Missstände in der Altenpflege ist
wieder in aller Munde. In dicken Lettern titeln Boulevard-Blätter über
Misshandlungen in Heimen. In Talkshows werden Experten geladen und gehört,
ebenso Angehörige. Das Thema „Leben im Alter“ wird hoch emotional geführt, denn
dieses Thema berührt uns alle: Mit jedem Atemzug altern wir, jeder Lidschlag
bringt uns dem Tode näher. In den Einrichtungen der Seniorenhilfe und Pflege werden
die Menschen, denen ihr Alter bewusst ist, und mit ihnen ihre Angehörigen,
wertschätzend begleitet. Das ist die Normalität, die oftmals wegen der hitzig
geführten Debatten um schreckliche Einzelfälle vergessen wird. Diesen Fakt der
Normalität beweisen die turnusmäßig erscheinenden Pflegequalitätsberichte der
Krankenkassen. Es ist eine Normalität, die gern gelebt wird – von Bewohnern,
Angehörigen und Mitarbeitern. „Daher empfinde ich die eindimensionale Berichterstattung
als absolut ungerecht gegen die engagierten Mitarbeiter“, ärgert sich
Heinz-Georg Eirund, hauptamtlicher Vorstand des Caritasverbandes Brilons: „Eben
genau diese Normalität aufrechtzuerhalten, gilt das Streben der ambulanten bis
zu den vollstationären Pflegeanbietern.“ Es ist aber auch eine Normalität, die
immer öfter vom spitz geführten Rechenstift begrenzt wird. „Die Rahmenbedingungen
müssen sich ändern“, fordert Heinz-Georg Eirund anlässlich der aktuellen
Diskussionen.
Die Nutzer und Angehörigen stellen eine hohe Qualitätsanforderung an die ambulanten
Dienste und stationären Einrichtungen. „Zu Recht“, betont Heinz-Georg Eirund:
„Ein Anspruch, dem wir als Anbieter voll und ganz folgen.“ Ein Anspruch, der
immer schwieriger einzuhalten ist. „Als Träger wird uns der Rahmen vonseiten
der Bundes- und Landesgesetzgebung sowie der Pflege- und Krankenkassen immer
enger gesteckt.“ Ein Rahmen, der aufzwingt, Pflege im Minutentakt abzurechnen,
und der sich mitunter im Dokumentationswahn ergeht. Nur schriftlich wie
elektronisch fixierte Handgriffe der Pflegefachkräfte können abgerechnet werden.
„Natürlich ist eine angemessene Dokumentation gut und richtig. Sie zeigt Entwicklungen
auf und dient letztlich auch der Kontrolle“, sagt Eirund – allerdings: „Die
durchaus berechtigten aber qualitativ und
quantitativ völlig überzogenen Kontrollen durch private und gesetzliche
Pflegekassen, durch Heimaufsichten, Gesundheitsamt und technische Betriebsmittelprüfungen
müssen wieder auf ein vernünftiges, das heißt auf ein praxisrelevantes Maß
zurückgefahren werden.“ Die überzogenen Kontroll-Szenarien kosten den Trägern
Geld. Ein Budget-Posten, der von den Kontrollinstanzen jedoch nicht ausreichend
refinanziert wird. Auch andernorts liegen Leistung und Lohn nicht im Einklang:
„Die Refinanzierung entspricht nicht den Kosten, die uns als Träger für angemessene
und notwendige Gehälter und Sachkosten entstehen“, betont der Caritas-Vorstand.
Fahrten zu den ambulant betreuten Patienten werden beispielsweise nicht nach
der Entfernung sondern in Pauschalen abgerechnet. Preissteigerungen beim
Treibstoff werden nicht ausreichend berücksichtigt. Ein Ungleichgewicht, das
auf den Rücken der Mitarbeiter und Bewohner sowie der Patienten lastet.
„Dauerhaft zu leisten ist der zu Recht geforderte hohe Pflegeanspruch unter
immer schneller getaktetem Zeitdruck und Dokumentationsaufwand nicht“, weiß
Caritas-Vorstand Heinz-Georg Eirund auch mit Blick auf völlig unrealistische
Zeitvorgaben für unterschiedliche Pflegemodule. Diese Taktung gehe zulasten der
Mitarbeiter, deren höchste Motivation unter solchen Bedingungen schnell
verbrannt würde. Immer öfter wechseln qualifizierte Pflegekräfte den Beruf. Sie
sind ausgebrannt. „Etwas, das nicht sein muss, denn der Pflegeberuf ist ein
Dienst am Nächsten, nah am Menschen, und könnte daher sehr erfüllend sein“,
weiß Eirund. Wenn der Rahmen stimmen würde.
Aber der Rahmen befindet sich in Schieflage: „Seit Einführung der Pflegeversicherung
Mitte der 90er Jahre sind die Zuzahlungen der Pflegekassen kaum gestiegen. Auch
die Tarifsteigerungen oder die Steigerungen von Sachkosten wurden kaum berücksichtigt“,
kritisiert der Caritas-Vorstand. Zu träge gebärden sich Politik und Gesetzgebung.
Diese Trägheit zahlen, müssen die Patienten oder Bewohner und Angehörigen. Und
auch unter diesen Umständen wird nicht mit jedem Euro gut gewirtschaftet. „Die
Qualität der Pflege wird durch das außerordentliche Engagement der Mitarbeiter
hochgehalten, denn anstelle den Personalschlüssel vor Ort, also am Bewohner
oder Patienten, zu heben, wurde oft die Verwaltung aufgrund der Anforderungen
von Kranken- und Pflegekasse aufgebläht.“, bemängelt Heinz-Georg Eirund. Das
Statistische Bundesamt hat nachgerechnet: In 2012 werden in einem ambulanten
Pflegedienst mit 60 Patienten 2,3 Vollzeitstellen allein für die Dokumentation
gebraucht. Bundesweit sind in deutschen Pflegeeinrichtungen 68.000 Mitarbeiter
ausschließlich mit Dokumentation und Abrechnung beschäftigt. Auch die Bilanz in
Euros präsentiert das Statistische Bundesamt: 2,3 Milliarden Euro kostet dieser
Bürokratieaufwand der Volkswirtschaft. „Viel von diesem Geld und auch von der
Arbeitszeit wären in der direkten Arbeit mit den uns anvertrauten Menschen
besser investiert“, unterstreicht Heinz-Georg Eirund auch und vor allem mit
Blick auf den Demographischen Wandel. Die Gesellschaft wird älter: Immer mehr
Menschen werden unterstützt, begleitet und gepflegt werden müssen. Derzeit sind
rund 2,4 Millionen Bundesbürger pflegebedürftig – bereits in wenigen
Jahrzehnten werden es über vier Millionen sein.
Dem Alter scheinen in unserer leistungsorientierten Gesellschaft grundsätzliche
Makel anzuhaften: unproduktiv – unrentabel – unattraktiv. „Ein Unbehagen, das
uns aufmerksam machen sollte“, fordert Caritas-Vorstand Eirund: „Wir altern mit
jedem Atemzug. Auch deshalb wollen und müssen wir uns solidarisch erklären: Den
Menschen ein Altern in Würde zu ermöglichen, dazu braucht es Fachkompetenz,
Erfahrung und Verantwortungsbereitschaft. Dieses bringen wir gerne ein. Aber
schaffen können wir es nur gemeinsam, wenn Politik, Gesetz und Gesellschaft uns
stützen.“
„Ein Unbehagen, das uns aufmerksam machen sollte“: Heinz-Georg Eirund, hauptamtlicher
Vorstand Caritasverband Brilon, äußert sich über Altern in Würde, Kontroll-Szenarien
und Schlagzeilen über Missstände in der Pflege. FOTO: CARITASVERBAND BRILON /
WAMERS