Zu Gast: Heinz-Georg Eirund (Vorstand Caritas Brilon, Foto v. r.) empfing Landesdirektor Dr. Georg Lunemann und Wolfgang Diekmann (parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-LWL-Fraktion) in der Geschäftsstelle. Am Gespräch nahmen auch Alexander Klatt und Jens Decker (Beschäftige und Peer-Berater in den Werkstätten St. Martin), Thomas Schneider (Geschäftsfüher Beratung, Erziehung, Teilhabe), Daniela Bange (Fachbereichsleitung Caritas Werkstätten St. Martin) und Engelbert Kraft (Geschäftsführer „Arbeit und Bildung“) teil. FOTO: CARITAS BRILON / SANDRA WAMERS
Brilon / Münster. Dr. Georg Lunemann, seit dem 1. Juli 2022 der neue Landesdirektor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), besuchte jetzt den Caritasverband Brilon e.V., um sich über aktuelle wie zukünftige Themen und Herausforderungen auszutauschen. Begleitet wurde der Landesdirektor von Wolfgang Diekmann, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-LWL-Fraktion. Der Schwerpunkt des Treffens lag dabei auf dem Bereich der Eingliederungshilfe.
Zum Gesprächsauftakt skizzierte Heinz-Georg Eirund, Vorstand Caritasverband Brilon, wie sich das Wirtschaften in einem Wohlfahrtsverband nach drei Jahren Corona-Pandemie sowie angesichts der allgemeinen Verunsicherungen und Neuordnungen auch durch den Angriffskrieg auf die Ukraine - Schlagworte: Inflation und Energie - darstellt. "Wir stehen bei den Pflege- und Tagessätzen in Einzelverhandlungen mit allen Kostenträgern, um die Kosten und Risiken der Krisen abzudecken, die nur zum Teil von den Kostenträgern angemessen gewürdigt werden", sagte Vorstand Eirund. Enorm anstrengende Kraftakte, die von einem weiteren Brennpunktthema flankiert werden: dem Personal- und Fachkräftemangel.
"Die Probleme, die auf uns zukommen, sind mit Geld allein nicht mehr zu lösen", sagte Landesdirektor Lunemann und nannte unter anderem die Digitalisierung als einen Ansatz, um zukünftig die Arbeit mit und am Menschen leisten zu können. Darüber hinaus führte Lunemann als weitere Lösungen Dezentralisierung und Ambulantisierung an. "Wir sollten Menschen möglichst dort betreuen, wo sie auch herkommen, um bestehende Netzwerke, wie beispielsweise die Familie, einzubinden." Auch wenn neue Lösungsmöglichkeiten, wie etwa die Akquise ausländischer Arbeitskräfte, für die Hilfe und Pflege für Menschen mit Behinderungen, im Alter und bei Erkrankung forciert würden, so "bleibt es eine Herausforderung, die Leistungen weiter in guter Qualität zu erbringen", sagte der Landesdirektor.
Dabei zeichnen sich die Problemlagen bereits jetzt ab und bedingen mitunter einander: "Der Facharztmangel in der psychiatrischen Versorgung führt in unserem Einzugsgebiet dazu, dass gesetzliche Vorgaben zum Teil nur beschränkt umgesetzt werden können", sagte Thomas Schneider, Geschäftsführer "Beratung, Erziehung, Begleitung" im Caritasverband Brilon. Dabei befindet sich die Eingliederungshilfe im Zuge der stufenweisen Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), das Menschen mit Behinderungen durch zahlreiche Neuerungen, wie beispielsweise die Feststellung des individuellen Hilfebedarfs durch ein neues Bedarfsermittlungsinstrument, mehr Teilhabe am Leben ermöglichen soll. Das Gesetzpaket zum BTHG samt praktischen Umsetzungen wurde in vier Stufen - auch und vor allem parallel zur Corona-Pandemie - eingeführt. Wann es abgeschlossen werden kann, ist aktuell nicht absehbar.
Als ein besonderes Projekt in besonderen Zeiten wurde die Wohngruppe St. Michael vorgestellt. Dort leben seit knapp einem Jahr 17 Frauen mit einer geistigen Behinderung, die aus ihrer Heimatstadt Kiew vor dem Krieg flüchten mussten. Die Frauen und ihre Betreuerinnen wurden von der Caritas Brilon kurzentschlossen, weil sich der Verantwortung gegenüber Menschen in Not wohl bewusst, aufgenommen. Auch andernorts haben Wohlfahrtsorganisationen Wohngruppen für ukrainische Flüchtlinge mit Behinderungen eingerichtet. "Im März 2022 sagte Gesundheitsminister Laumann zu uns: Nehmt die Menschen jetzt auf; die Refinanzierung regeln wir später", erzählte Caritas-Vorstand Eirund. Das "Später" zieht sich bis heute: "Die Refinanzierung ist mit einem enormen bürokratischen Aufwand verbunden und leider bis heute nicht komplett gelaufen", bemängelte Eirund. So seien mitunter Zuständigkeiten ungeklärt und Behörden verweisen aufeinander. Am Beispiel: Um den Ukrainerinnen eine Tagesstruktur zu ermöglichen und damit deren Betreuerinnen auch eine Entlastung zu bieten, besuchen die 17 Frauen mit Behinderungen tagsüber die Caritas Werkstätten St. Martin. "Da haben wir im vergangenen Jahr noch ein Delta, das nicht finanziert wurde, weil kein Kostenträger sich dafür zuständig fühlt", sagte Daniela Bange, Fachbereichsleitung Caritas Werkstätten St. Martin. Problemstellungen, die Landesdirektor Lunemann - auch in Bezug auf das BTHG - bewusst waren: "Einiges ist verkompliziert worden, manchmal muss man vom deutschen Perfektionismus auch einmal abweichen, um zu lösen."
Mit Blick auf den Arbeitsmarkt sah Landesdirektor Lunemann durchaus Chancen, die Inklusion voranzutreiben: "Wir sehen, dass viele Arbeitskräfte fehlen und können die aktuelle Situation ein stückweit auch als Chance für Menschen mit Behinderungen begreifen." Ein Zugang zur Teilhabe am Arbeitsleben stellen für Lunemann Integrationsfirmen dar. Engelbert Kraft, Geschäftsführer "Arbeit und Bildung", wies darauf hin, dass auch bei den Beschäftigten in Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM), die Teilzeitquote steigt und es tendenziell auch höhere Ausfallquoten gebe. Auch haben sich die Behinderungsbilder in der WfbM verändert: "Auf ein Drittel ist der Anteil der Beschäftigten mit einer psychischen Erkrankung gestiegen", sagte Engelbert Kraft. Auch vor dem Hintergrund sei die Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt schwierig. Durchschnittlich könnten pro Jahr zwei Personen von den 660 Beschäftigen der Werkstätten St. Martin auf den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden.
Konkrete Einblicke in das Pilotprojekt der "Peer Beratung" gaben die Alexander Klatt und Jens Decker, Beschäftige und Peer-Berater in den Werkstätten St. Martin. "Insgesamt haben sich zehn Beschäftige zu sogenannten Peers qualifizieren lassen", berichtete Jens Decker. Die Peer-Beratung ist eine Beratung von Menschen mit Behinderungen für Menschen mit Behinderungen. Die Peers kennen die Fragen und Probleme der Ratsuchenden oft aus eigener Erfahrung. Themenfelder sind etwa Mobilität, Finanzielles, Konflikte oder Freizeitgestaltung. Begleitet werden die Peer-Beratungen im Hintergrund von sogenannten Tandem-Partner, hauptamtliche Mitarbeiterinnen aus den begleiteten Diensten der WfbM. "Auch für zukünftige Beschäftige, die in der WfbM arbeiten möchten, sind wir beim Bewerbungsgespräch dabei, um vom Leben und Arbeiten zu erzählen. Darüber hinaus sind wir Paten für neue Beschäftige und auch für Schüler, die bei uns ein Praktikum machen", erzählte Alexander Klatt.